M. Leimgruber u.a. (Hrsg.): Umbruch an der Inneren Front

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Titel
Umbruch an der Inneren Front. Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz, 1938-1948


Herausgeber
Leimgruber, Matthieu; Lengwiler, Martin
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
195 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christof Dejung, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

In einer Zeit, in der der Sozialstaat in vielen europäischen Ländern als nicht mehr finanzierbar gilt und Sozialhilfeempfänger mitunter als Schmarotzer bezeichnet werden, ist es sinnvoll sich zu vergegenwärtigen, wie dieser Sozialstaat überhaupt entstanden ist. Der von Matthieu Leimgruber und Martin Lengwiler herausgegebene Band untersucht die schweizerische Sozialpolitik zwischen 1938 und 1948, einer Zeit also, in welcher in der Schweiz zahlreiche sozialpolitische Reformen erfolgten. Nachdem die Zeit rund um den Zweiten Weltkrieg in den letzten Jahren – aufgrund der Debatte um die nachrichtenlosen Vermögen und der Forschungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz–Zweiter Weltkrieg – vor allem in Bezug auf die Aussenpolitik und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen untersucht wurde, wird die Aufmerksamkeit damit explizit wieder auf die innenpolitischen Verhältnisse gelenkt.

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass verschiedene europäische Staaten ab Ende der 1930er Jahre den Sozialstaat massiv ausbauten. Dies nicht zuletzt, um angesichts des aufziehenden militärischen Konfliktes soziale Spannungen im Landesinnern zu verhindern und auch die Frauen in die Kriegswirtschaft zu integrieren. Für die schweizerische Sozialpolitik, so scheint es zumindest auf den ersten Blick, stellte der Krieg weit weniger eine Zäsur dar als für das europäische Ausland. Die Herausgeber zeigen jedoch, dass diese These eines sozialpolitischen Sonderfalls nicht haltbar ist. Auch in der Schweiz erfolgten grosse sozialpolitische Neuerungen. Allerdings waren hierzulande zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure weit stärker in die Ausgestaltung des Sozialstaates integriert als etwa in Deutschland und Grossbritannien, wo die staatlichen Bürokratien ihre Kompetenzen massiv ausbauten. Dass der Einbezug von wirtschaftlichen Interessengruppen keineswegs unproblematisch war, zeigt der Beitrag von Martin Lengwiler über die staatliche Gesundheitspolitik. Da sich Krankenkassen und Ärztevereinigungen jahrelang blockierten, scheiterten sowohl die Einführung eines Krankenversicherungsobligatoriums wie auch verschiedene gesundheitspolitische Reformen. Eine Teilrevision des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes kam erst 1964 zustande.

Ein wesentlicher Grund für den Ausbau des schweizerischen Sozialstaates in den frühen 1940er Jahren lag darin, dass den bürgerlichen Kreisen nach wie vor das Trauma des Generalstreikes von 1918 in den Knochen steckte, wie Carola Togni ausführt. Da man auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und soziale Unrast befürchtete, beschloss der Bundesrat 1942 im Rahmen des Vollmachtenregimes eine Neuordnung der Arbeitslosenversicherung, welche die Grundlage für das Arbeitslosengesetz von 1951 darstellte. Obwohl die sozialstaatlichen Massnahmen einem Grossteil der Bevölkerung mehr soziale Sicherheit bescherten, war ihr Ausbau während des Zweiten Weltkrieges vor allem darum möglich gewesen, weil durch das Notrecht die Möglichkeit, Regierungsbeschlüsse durch ein Referendum rückgängig zu machen, eingeschränkt wurde. Vor und häufig auch nach dem Krieg war ein Ausbau des Sozialstaates immer wieder in Volksabstimmungen abgelehnt worden, wie Adrian Zimmermann in seinem Beitrag zu den Arbeitsbeschaffungsmassnahmen des Bundes zeigt.

Der Sozialstaat führte zwar auf der einen Seite zu einer grösseren gesellschaftlichen Egalität, er akzentuierte aber auf der anderen Seite auch soziale Ungleichheiten, namentlich im Bereich der Geschlechterordnung. Claudia Togni führt aus, dass bei der Arbeitslosenversicherung die Frauen gegenüber den Männern klar benachteiligt waren. Beatrice Schumacher wiederum legt dar, wie die duale Geschlechterkonzeption die Einrichtung einer eigentlichen Familienpolitik verhinderte, da diese Konzeption die Ansicht beförderte, die Familie sei Privatsache und der Staat habe in diesem Bereich nichts zu suchen. Dies führte mitunter zu helvetischen Kuriositäten. So wurde etwa 2004 die Mutterschaftsversicherung in die Erwerbsersatzordnung (EO) integriert, welche 1940 zur Deckung von Erwerbsausfall im Rahmen der Militärdienstpflicht geschaffen wurde. Auch der Umstand, dass mit der AHV die staatliche Altersversicherung aus der militärischen EO hervorgegangen war, stellt einen schweizerischen Spezialfall dar. Matthieu Leimgruber führt diese Entwicklungen als Beispiel dafür an, dass in der Schweiz soziale Rechte «zunächst rund um die Figur des männlichen Bürgers, Soldaten und Ernährers definiert waren und später auf alle Bürgerinnen und Bürger sowie auf alle in der Schweiz wohnhaften Personen beider Geschlechter ausgedehnt wurden» (S. 99).

Alles in allem bietet der Band eine Zusammenstellung von gut ausgearbeiteten und auf fundierter Forschung beruhenden Beiträgen, die eine unverzichtbare Grundlage für die weitere Beschäftigung mit der Geschichte des schweizerischen Sozialstaates im 20. Jahrhundert bieten werden. Hervorzuheben ist insbesondere, dass der Band nicht, wie bei Sammelbänden häufig der Fall, mehr oder weniger unzusammenhängende Artikel zwischen zwei Buchdeckel quetscht, sondern das Resultat eines gemeinsamen Forschungsinteresses und intensiver Diskussionen im Rahmen zweier Tagungen darstellt.

Das Thema des Bandes kann als Anregung dienen, sich nochmals grundsätzlich mit dem Verhältnis von Staaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern zu beschäftigen. Dabei könnten auch Fragen angegangen werden, die im vorliegenden Band fehlen. Implizit gehen die Autoren und Autorinnen dieses Bandes davon aus, dass ein Ausbau des Sozialstaates generell etwas Erstrebenswertes ist, und sie fragen demzufolge vor allem nach den Gründen für Verspätungen und Verzögerungen eines solchen Ausbaus. So sympathisch diese Ansicht politisch sein mag, so verstellt sie doch den Blick auf ganz grundlegende Fragen, wie etwa der Frage, warum sich eigentlich in Europa die Vorstellung durchsetzte, dass der Staat in derartigem Ausmass für das materielle Wohlergehen und die soziale Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger verantwortlich ist. Aussereuropäische Länder wie China oder Indien, aber auch ein Land wie die USA, das vom Wohlstandniveau durchaus mit Westeuropa vergleichbar ist, scheinen im sozialpolitischen Bereich ganz andere Wege eingeschlagen zu haben. Eventuell würde es sich lohnen, solche Fragen unter Einbezug von Konzepten wie derjenigen der Gouvernementalität (Michel Foucault) oder der Territorialität (Charles Maier) und durch das Einnehmen einer global-historisch vergleichenden Perspektive weiter zu verfolgen. So liessen sich vielleicht neue Erkenntnisse über das spezifisch neuzeitliche und europäische Konzept des Sozialstaates und über das Verhältnis von Individuen und den territorialen Machtansprüchen moderner Nationalstaaten gewinnen. Dass der vorliegende Band zu solchen Fragen anregt und die empirischen Befunde vorstellt, welche für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema unerlässlich sind, unterstreicht nochmals seine Bedeutung.

Zitierweise:
Christof Dejung: Rezension zu: Matthieu Leimgruber und Martin Lengwiler: Umbruch an der Inneren Front. Krieg und Sozialpolitik in der Schweiz, 1938–1948. Zürich, Chronos Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 380-382.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 3, 2010, S. 380-382.

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